Was würde passieren, wenn Sie sich Ihrem Gegenüber so zeigen würden, wie Sie sind, unverblümt, ehrlich und pur. Haben Sie den Mut, sich Ihrem Gegenüber zuzumuten, mit dem Ergebnis, vielleicht nicht seiner Vorstellung zu entsprechen? Was würde dann passieren?
Wenn wir dieser Authentizität in unserem Leben einen Platz geben, ist das eine Chance, uns wieder neu zu entdecken. Es ist nämlich so, dass wir uns im Laufe unseres Lebens der Erwartungshaltung unseres Umfeldes immer mehr anpassen. Dies tun wir deshalb, weil wir gemocht und geliebt werden möchten. Weil wir dazugehören möchten. Weil die Zughörigkeit zu einer Gruppe und Gemeinschaft für uns wichtig ist. Wir verhalten uns deshalb gruppenkonform, passen uns also den Regeln der Gemeinschaft, den Ansprüchen und Erwartungshaltungen unseres Gegenübers an. Das erleichtert das Miteinander. Wir versuchen so, eine Harmonie entstehen zu lassen, die uns ein gutes Gefühl gibt, ein Gefühl dazuzugehören.
Wenn wir aber nicht aufpassen, werden wir immer mehr zum bloßen Spiegelbild der Erwartungen.
Wenn wir kein Konstrukt der Erwartungshaltung unseres Gegenübers sein möchten, sondern autark, authentisch und frei, so dürfen wir uns zunächst selbst wieder neu entdecken. Nämlich wie wir ohne die Ansprüche unseres Gegenübers wären.
Wir brauchen viel Mut, um der zu werden, der wir tatsächlich sind.
Wenn wir uns trauen, einen ehrlichen Blick auf uns selbst zu richten, so entdecken wir die Anteile in uns, die wir in unseren imaginären Keller gesteckt und dessen Tür wir fest verschlossen haben – z. B. Neid, Missgunst, Eifersucht, Angst und viele, viele weitere weniger attraktive Anteile. Allesamt Anteile, die Sie vielleicht nicht offen zeigen, die Sie, wenn Sie sie spüren, am liebsten negieren würden. Aber stellen Sie sich vor, dass auch diese Eigenschaften ein Teil Ihrer Persönlichkeit sind. Dass sie wie ein Teil ihrer inneren Familie, wie eine innere Gemeinschaft zu Ihnen gehören, aber dass Sie diese am liebsten wegsperren, nicht zeigen, ihrer Umgebung nicht zumuten möchten. Doch wie bei allen anderen Menschen gehören auch diese Anteile zu ihnen.
Wenn Sie einen liebevollen Blick auf sich selbst richten, so werden Sie wahrnehmen, dass auch Sie in der Dualität des Lebens eingebettet sind. Und so wie bei hell und dunkel, warm und kalt, Sommer und Winter, so gibt es zu allen Anteilen in Ihnen auch ein Gegenüber, einen Antagonisten.
Die eigentliche Liebesaufgabe ist, uns selbst so zu lieben, wie wir sind, mit allen unseren Anteilen. Und wenn wir einen anderen Menschen wirklich lieben, so lieben wir alles an ihm.
Wenn wir uns selbst lieben wollen, dürfen wir beginnen, uns ganz wahrzunehmen. Wenn wir also unsere imaginäre Kellertür aufmachen und unsere inneren Kellerkinder herauslassen, so fangen wir an, uns liebevoll so zu akzeptieren, wie wir in Wirklichkeit sind. Wir bekommen ein Bild von uns, das nicht darin besteht, perfekt und genormt zu sein, sondern auch eckig und vielleicht auch ein bisschen anders als erwartet.
Wenn wir in dem Bild einer inneren Familie bleiben, in der alle Anteile in uns zu uns gehören, so entsteht ein innerer Frieden dann, wenn alle Anteile gesehen werden, einen guten Platz haben und ein Miteinander entstehen darf. Der Mut darf also die Angst ansehen, die Großzügigkeit den Kleingeist, der Gute den weniger Guten, so dass alles in uns angesehen und wahrgenommen wird.
Im Leben bedeutet dies, dass wir einen liebevollen Zugang zu uns selbst schaffen, zu dem, was wir wirklich sind. Das Streben nach Anerkennung, Wertschätzung und Erfolg sollte uns nicht dazu bringen, ein Mensch sein, der sich anpasst, um der Vorstellung anderer zu entsprechen. Vielmehr sollten wir der sein und bleiben, der wir wirklich sind. Erst wenn wir die Akzeptanz uns selbst gegenüber hergestellt haben, sind wir wirklich frei.
Indem wir lernen, uns ganz zu lieben, uns in unserer menschlichen Befindlichkeit wahr- und anzunehmen, finden wir zu einer inneren Gelassenheit. Nicht in einem einseitigen Streben, sondern in einer ganzheitlichen Akzeptanz uns selbst gegenüber liegt der Schlüssel zum Glücklichsein.
Wenn ich mich dafür entscheide, darf mein Gegenüber lernen, dass es mich nur ganz gibt.
(Der Text ist aus dem Buch „Systemische Gedanken“ von Harald Kriegbaum)