Es ist schon interessant, wie wir das „Erwachsensein“ bei unseren Kindern begrüßen und fördern. Schon im Kindergarten arbeiten wir daran, unsere Kinder „fit“ zu machen für ein Leben, in dem Sachverstand und kühle Logik darüber entscheiden, erfolgreich zu sein.
Wir selbst sind schnell klug und besonnen geworden. Der erwachsene, verkopfte Anteil in uns wurde gefördert und systematisch aufgebaut. So schaut dann auch die Erwachsenenwelt aus.
Stellen wir uns vor, in uns gibt es einen „erwachsenen“ Anteil (den des Klugen, Abwägenden, Berechnenden, sich Arrangierenden) und einen Anteil, der unserem „inneren Kind“ zugesprochen wird. Das innere Kind steht für unsere Sehnsüchte, für sinnliche Erlebnisse, Spontanität, Lust, Freude und Trauer, Lachen und Weinen, für alle Gefühle und Emotionen, aber auch für eine tiefe Geborgenheit und ein unschuldiges Sein. Es ist aber der Erwachsene in uns, der in der Familie, der Arbeit und im gesellschaftlichen Miteinander sehr oft die Führung übernimmt, denn wir wurden darauf konditioniert, „erwachsen“ zu sein. Fakten statt Gefühle, Kopf statt Bauch, Ratio statt Intuition.
In der Welt des Erwachsenen hat alles Sinn und Zweck, wird alles organisiert und realisiert, folgt alles einem Plan. Uns wird täglich medial gezeigt, wie Glücklichsein auszusehen hat. Wir spüren aber instinktiv, dass es noch etwas anderes geben muss. Etwas, was uns auf andere Weise glücklich macht. Ab und zu tritt dies in unser Bewusstsein, überkommt uns in Form von Emotionen und Sehnsüchten.
Wie oft nehmen wir uns Zeit, bei uns anzukommen und uns wirklich zu spüren?
Stattdessen fliehen wir in einen Aktionismus:
Ich muss noch so viel erledigen …
Ich muss noch so viel überlegen …
Ich muss noch so viel auf die Reihe bringen …
Ich muss versuchen, glücklicher zu sein …
Ich muss mich noch mehr anstrengen …
So funktionieren unsere Arbeit, unsere Karriere, unsere Freundschaften und manchmal auch unsere Partnerschaften.
„Wenn ich mich noch mehr anstrenge, werde ich noch glücklicher!“
Gleich dem berühmten Hamster in seinem Hamsterrad geht’s weiter vorwärts. Es muss etwas geschehen!
Was bleibt, ist eine vage Vorstellung davon, was wir auch noch sind. Tief in unserem Inneren. Diese Ahnung hinterlässt einen bitteren Geschmack. All unser Erfolg reicht nicht aus, dies zu überdecken.
Es ist das Kind in uns, das wir nicht mehr wahrnehmen, das in einem stillen inneren Ort in uns verharrt – oft unbeachtet und einsam.
Welches Risiko würde der Erwachsene in uns eingehen, wenn er zulassen würde, dass das innere Kind mehr Geltung bekommt?
Welche Konstrukte, die er so mühsam aufgebaut hat, müsste er dann in Frage stellen?
Was würde sich verändern?
Schauen wir uns die Welt unseres inneren Kindes an.
Es ist eine lustvolle Welt, in der, ohne viel zu überlegen, aus einem Impuls heraus so gelebt wird, wie es sich am schönsten anfühlt. Lust, Freude, Lachen, Spaß und sinnliche Wahrnehmung sind hier zu Hause. Nicht die Gestaltung der Zukunft bestimmt das Tun, sondern das Hier und Jetzt. Vertrauen in das Leben äußert sich in einer tiefen Geborgenheit, in einem Bewusstsein, beschützt und sicher zu sein.
In der Bibel steht in Matthäus 18, Vers 3: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“
Das innere Kind ist unsere instinktive Seite; es steht für die Gefühle, die „aus dem Bauch“ kommen. In anderen Zusammenhängen wurde es auch schon mit dem Unbewussten gleichgesetzt, aber wir sind uns seiner nur deshalb nicht bewusst, weil wir ihm so wenig Aufmerksamkeit schenken.
Erwachsene, die von ihrem Inneren Kind abgetrennt sind, tun sich schwer damit, vergnügt zu sein. Unsere Sinnlichkeit – das tiefe Erleben von Berührungen, Geschmack, Geruch und Gehör – gehört zum inneren Kind. Kinder sind sinnliche Wesen.
Welche Chance bietet sich uns, wenn wir die Verbindung zu unserem Inneren Kind aufnehmen?
Ganz sicher werden wir uns glücklicher fühlen.
Die meisten von uns sagen zu sich selbst: „Es gibt eine Zeit zum Arbeiten und eine Zeit zum Bei-sich-Ankommen, zum Spüren und Fühlen, und dann werde ich mit meinem inneren Anteil Kontakt aufnehmen.“ Aber wie heiter würde das Leben dahinfließen, wenn auch die Arbeit einem verspielten, kreativen, lustvollen Ort gleichen würde?
In der Businesswelt verstehen immer mehr Firmenchefs, dass durch lustvolle und spielerische Elemente in der Arbeitsumgebung (die das Innere-Kind-Sein unterstützen) die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter besser ist. Seit Jahren führt Google das Ranking der beliebtesten Arbeitgeber der Welt an – und der US-Internetkonzern arbeitet hart für diesen Spitzenplatz: Er serviert seinen Mitarbeitern Gratisessen von Burger bis Sushi, bietet ihnen kostenlose Massagen und in den Büros Schaukeln und Roller zur Entspannung an. Nach Arbeit sieht es hier nicht aus. Schachfiguren thronen auf dem Tisch in der Küche. Hinter der nächsten Glaswand laden Kickertisch und Spielekonsole zum Spielen ein. Im Vorraum liegen übergroße Polster-Spielwürfel als originelle Sitzgelegenheit auf dem Boden.
Sehr langsam setzt sich in der Geschäftswelt die Erkenntnis durch, dass wir Menschen keine rationalen, technischen und faktisch funktionierenden Geschöpfe sind, sondern dass unsere Emotionalität, Lust und Freude danach streben, sich entfalten zu können.
Analysiert man die Gründe für die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, so kommt man schnell zu den Bedürfnissen des inneren Kindes. Diese sind der Wunsch nach Anerkennung (und Liebe), nach Wertschätzung, das Gefühl wichtig zu sein, der Wunsch sich entfalten zu können und frei zu sein im Ausdruck und Wesen.
Betriebe erkennen häufig viel zu spät, was die Mitarbeiter im Unternehmen wirklich brauchen, um glücklich zu sein, und dass dieses Glück mit dem Erfolg des Unternehmens untrennbar verbunden ist.
Können Sie sich einen Betrieb vorstellen, auf den Sie sich schon morgens beim Aufstehen freuen, in dem Lachen und Individualität gewünscht sind und jeder Mitarbeiter respektiert und gefördert wird? In der kindlichen Unbeschwertheit und inneres Glück wieder sichtbar werden?
Von Kahlil Gibran, dem großen libanesischen Dichter und Philosophen, stammen die Worte:
„Ich verzichte auf alle Weisheit, die nicht weint, auf alle Philosophie, die nicht lacht, auf alle Größe, die sich nicht beugen kann – im Angesicht von Kindern.“
(Der Text ist aus dem Buch „Systemische Gedanken“ von Harald Kriegbaum