Ich möchte Dich so gerne lieben – Über die schwierige Liebe zu den Eltern

 

Die Liebe zu den Eltern ist unsere erste Liebe, die wir in unserem Leben erfahren. Sie ist eine Liebe, die tief in unserem Bewusstsein verankert wird. Sie ist der Innbegriff all unserer Sehnsüchte, die wir als Kind haben. Wir erfahren im Idealfall Geborgenheit, Zuneigung und eine herzliche Liebe und Zuwendung, die uns ein Gefühl geben, angenommen und geliebt zu sein.
Kinder sind voll Dankbarkeit und Glück, wenn sie diese wichtigen Impulse erleben. In den ersten sieben Jahren unseres Lebens ist es besonders wichtig, beschützt und behütet zu sein.
Die kindliche Seele ist noch zart und sehr empfindlich. Als Eltern wissen wir im Idealfall von dieser Zartheit und versuchen, unsere Kinder in den ersten Jahren zu behüten und zu beschützen. Doch nicht immer gelingt dies. Während bei uns Erwachsenen die Beurteilung von dem, was passiert, aus einer Ratio heraus bewertet wird, wir also Situationen anscheinend objektiv betrachten können, hat die kindliche Seele nur den Zugang über das Gefühl. So kommt es dazu, dass eine Zurückweisung, ein Nichtbeachten, ein Schimpfen, das aus der Erwachsenenperspektive als eher unbedeutend wahrgenommen wird, bei den Kindern schon eine seelische Verletzung hervorrufen kann. Die kindliche Perspektive ist eben eine andere als die der Erwachsenen.

Wir alle haben solche Verletzungen erfahren und unterschiedlich verarbeitet. Meist haben diese Verletzungen keine oder wenig Auswirkung auf unsere Befindlichkeit in unserem späteren Leben, doch manchmal wirken sie immer noch nach.
Man weiß, dass viele seelische Krankheiten ihren Ursprung in den ersten Kindesjahren haben.

Als Kind möchten wir geliebt werden, und wir tun alles dafür, dass sich dies erfüllt. Wenn wir als Kind geschimpft werden, wenn wir den Ärger und die Wut der Eltern erfahren, so glauben wir als Kind, wir wären nicht okay, wir würden etwas falsch machen, etwas würde mit uns nicht richtig sein, denn sonst würden uns ja die Eltern nicht schimpfen.
Wir fangen also bereits in kindlichen Jahren damit an, uns infrage zu stellen, unser Verhalten so anzupassen, dass wir geliebt werden. Wir versuchen, das brave Kind zu sein, und spüren so, dass die Liebe unserer Eltern zu uns dadurch mehr wird. Welche anderen Möglichkeiten haben wir denn sonst als Kind?

Doch ein Teil in uns fängt an, wütend zu werden. Wütend darauf, dass wir nicht so geliebt werden, wie wir sind. Es entsteht ein innerer Konflikt zwischen dem, was wir sind, und dem, wie wir sein sollen. Wir möchten unsere Eltern anders haben, möchten ihre bedingungslose Liebe, möchten von ihnen, dass sie uns so akzeptieren, wie wir sind, und dass sie uns bedingungslos unterstützen.
Wenn Eltern dies schaffen, ist es ein großer Segen. Doch sehr oft schaffen sie dies nicht. Als Kinder kommen wir so in einen Konflikt. Einerseits wollen wir unsere Eltern lieben, andererseits beurteilen wir ihr Verhalten und spüren, was dies bei uns als Kind bewirkt hat. Manchmal sind wir wütend, verzweifelt und auch anklagend.

Im systemischen Kontext überhöhen wir uns dann, indem wir unsere Eltern beurteilen und bewerten. Wir gehen in die Vater- und Mutterrolle unseren Eltern gegenüber. Wir sind so die Großen und verlassen unsere Kindposition.

In der Pubertät kommt es idealerweise zu einem Loslösungsprozess, in dem die Eltern infrage gestellt werden. Dies ist die Zeit, in der Eltern verzweifeln, denn sie verstehen oft nicht, was mit ihren Kindern los ist. Tatsächlich wird diese schwierige Zeit als konfliktreich erlebt, mit Auseinandersetzungen, langen Gesprächen und Meinungsverschiedenheiten. So können die Kinder sich loslösen und ihre eigene Persönlichkeit finden. Dieser erste Loslösungsprozess ist sehr wichtig, um ein eigenständiger Erwachsener zu werden.

In meiner Coachingpraxis habe ich manchmal Klienten, die diese Phase als Jugendlicher nicht aktiv durchlebt haben. Sie haben die Aufgabe des Pubertierens noch vor sich und dürfen lernen, ihren Eltern die Stirn zu bieten, um ihnen klarzumachen, dass sie eine eigene Persönlichkeit sind, die auch einen anderen, nämlich eigenen Standpunkt einnehmen kann und möchte. Wenn wir als Jugendliche dies nicht schaffen, bleibt die Aufgabe bestehen. Wir dürfen dann vielleicht erst als Erwachsene lernen, frei den eigenen Weg zu gehen.

Wenn in einem pubertären Prozess die Loslösung von den Eltern möglich war, ist die Nähe, die wieder entstehen darf, eine besonders innige. Diese Nähe ist dann besonders beseelt.

Die Schwierigkeit im Umgang mit unseren Eltern ist, der Liebe einen unabhängigen Platz zu geben.
Hinter dem Vordergründigen, dem, was die Wahrnehmung der Liebe verhindert, ihre Liebe zu spüren.

Eltern können nicht anders, als ihre Kinder zu lieben. Die Liebe zu den Kindern ist im systemischen Kontext die größte Kraft. Aber manchmal ist diese Liebe verschüttet hinter der Wut, dem Ärger, den Sorgen, den Widrigkeiten, der eigenen Unzulänglichkeit.

Es bleibt unsere Aufgabe, unseren Eltern einen liebevollen Platz in unserem Herzen zu geben. Das bedeutet nicht, dass wir etwas negieren, ungeschehen machen sollen, was uns als Kind vielleicht verletzt hat. Aber wir dürfen das Verhalten unserer Eltern liebevoll bei unseren Eltern lassen.
Vergeben bedeutet, ich gebe dir Deines zurück und meines nehme ich zu mir. Dies ist die eigentliche Liebesaufgabe.

Wenn wir selbst als Eltern spüren, dass wir bei den eigenen Kindern nicht liebevoll waren, dass wir zu schwach waren, bei uns zu sein, und eine Situation dazu geführt hat, dass wir unseren Kindern nicht den Platz gegeben haben, den sie gebraucht hätten, so leiden wir tief in uns als Eltern am meisten darunter. Dies ist bei allen Eltern so. Tief in uns ist eine Liebesinstanz, die genau weiß, was wichtig ist.

Wenn wir also aufhören, unsere Eltern zu beurteilen, sondern anfangen, sie als Menschen zu sehen, mit allen Unzulänglichkeiten und all dem, was sie eben nicht geschafft haben, wenn wir uns auf den Weg machen, ihre Liebe zu erkennen, auch wenn sie tief in ihrem Inneren uns verborgen sein mag, so können wir selbst wieder unsere Kindposition einnehmen, können wir wieder unsere tiefe innere Liebe zu unseren Eltern spüren. Wir brauchen dazu nicht einmal unsere Eltern. Es ist eine Aufgabe, die bei uns Kindern bleibt.

Meine Liebe zu dir ist mein Schatz, ganz tief in meinem Herzen.

Wenn wir so Kind sind, dürfen unsere Eltern wieder unsere Eltern sein. Wenn sie unsere Liebe spüren, können sie ihrer eigenen Liebe einen Platz in ihrem Herzen geben.
So sind wir wieder der, der wir eigentlich sind – das Kind unserer Eltern.

Systemische Gedanken – Betrachtungen des Lebens

Die Texte sind dem Buch  „Systemische Gedanken“ entliehen.

Die Betrachtungen des Lebens in diesen Geschichten öffnen die Tür zu unseren Bedürfnissen und unseren Sehnsüchten, beschäftigen sich aber auch mit den Widrigkeiten des Lebens. In einem breiten Bogen verschiedener Themen machen sie das Leben in seiner Vielfalt begreifbar. Dieses Buch darf als Anregung dienen, als Denkanstoß, als eine Möglichkeit, auf Entdeckungsreise zu gehen.

Ich wünsche Ihnen viel Freude und Inspiration beim Lesen dieses Buches.

Harald Kriegbaum

Systemische Gedanken – Betrachtungen des Lebens

Autor: Harald Kriegbaum

166 Seiten  / 21cm x 15cm / Hardcover

Verkaufspreis 18.– €
zuzgl. Verpackung und Versand 3,60€

Gesamtpreis: 21,60 €